Süddeutsche Zeitung 12. Juli 2021, 16:18 Uhr
Die Philosophin Ágnes Heller:Gefährlich frei
Die ungarische Philosophin Ágnes Heller und die Frage, was es bedeutet, dass der Zufall das Schicksal des Menschen ist.
Von Thomas Meyer
Im Februar 1955, so vermeldete ein Jahr später der Berichterstatter der in der DDR erscheinenden Deutschen Zeitschrift für Philosophie, habe Ágnes Heller ihre Dissertation über die „Ethik Tschernyschewskijs – Das Problem des vernünftigen Egoismus“ in Budapest bei Georg Lukács verteidigt. „Die Behandlung des Stoffes ist selbständig und originell und wendet Prinzipien des Marxismus-Leninismus auf die Ethik an“, so der zufriedene Autor. Es dürfte kaum frühere Zeugnisse der deutschsprachigen Rezeption der vor zwei Jahren bei einem Badeunfall mit 90 Jahren verstorbenen ungarisch-jüdischen Philosophin geben.Dass Heller, die nur mit sehr viel Glück den Holocaust überlebte, zu dem ebenfalls jüdischen Georg Lukács ging, um Philosophie zu studieren, war aufgrund ihrer Interessen und ihrer Geschichte nur folgerichtig. So sehr Lukács nämlich geschickter Apparatschik war und sich glaubte in die eigentlich nach unverrückbaren Gesetzen verlaufende Geschichte einmischen zu sollen, so sehr war der 1885 Geborene doch schon zu dieser Zeit neben dem gleichaltrigen Ernst Bloch der einzige marxistische Philosoph von Weltrang. Und zudem galt er mit gutem Recht, neben dem ihn scharf ablehnenden Germanisten Hans Mayer in Leipzig, zu dieser Zeit als der beste Kenner deutscher Literatur- und Geistesgeschichte im sogenannten Ostblock. (…)
(…): „Einst warnte Lukács seine marxistischen Kollegen, dass ein Kaninchen, tanzend auf der Spitze des Himalaya, sich für größer halten sollte als der Elefant in der Ebene. Nun ist der ‚Marxismus‘ nicht, wie Lukács annahm, solch ein ‚Himalaya‘ unter den Weltsichten, nur ein Gebirgszug neben anderen. Aber sicherlich war Lukács dessen einziger ‚Elefant‘. Man kann über ihn hinausgehen, aber man sollte zu ihm hinaufsehen: Ob ich seinen Spuren folge oder nicht, etwas völlig Divergierendes tuend, ich werde ihm stets verpflichtet bleiben.“Die Zeilen stammen aus einem Brief an Rüdiger Dannemann, dem wohl besten Lukács-Kenner hierzulande. Zusammen mit dem Frankfurter Philosophen und Lukács-Weggefährten seit den frühen siebziger Jahren Axel Honneth legte Dannemann pünktlich zum 50. Todestag am 4. Juni bei Suhrkamp einen Sammelband mit Texten des marxistischen Häretikers vor, der neben vielen anderen Vorzügen eben auch ein erhellendes Licht auf Hellers Denken wirft.
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