Jetzt ist die Lukács-Nummer der Zeitschrift Dissonância (Campinas, São Paulo) erschienen, mit Studien und Intervews (Anita Chari, Rüdiger Dannemann, Ágnes Erdélyi, Andrew Feenberg, Antonino Infranca, Konstantinos Kavoulakos, Michael Löwy, Michael J. Thompson, Miguel Vedda)
wie versprochen schicke ich Ihnen in dieser Mail meine lose in Berichtsform gegossenen Eindrücke vom Lukács-Archiv. Ich möchte mich außerdem nochmal für Ihre Vermittlung des Kontakts zu Herrn Mesterházi bedanken, den ich Budapest treffen konnte.
Durch Sie und Herrn Mesterházi war ich ja auf den Zustand, in dem sich die ehemaligen Räumlichkeiten des Archivs mittlerweile befinden, vorbereitet worden, aber als jemand, der die Ereignisse rund um die Schließung 2016 nur durch die nachträgliche Lektüre von Artikeln kennt und der überdies auch die Blüte des Archivs nicht hat miterleben können, als ein in dieser Hinsicht also verspäteter Lukács-Jünger wird man durch einen bevorstehenden Besuch in Lukács ehemaliger Wohnung trotzdem euphorisiert. Und weil man ja durch ein wirklich beachtliches Treppenhaus (nach Meinung von Herrn Mesterházi das Schönste von ganz Budapest) bis zur Wohnungstür steigt, hält sich diese Euphorie tatsächlich auch ungefähr so lange. Dann stellt sich allerdings sehr schnell, wenn man in der Diele der Wohnung steht und seine Jacke aufhängt, das erste Mal Ernüchterung ein. Schon nach kurzer Zeit kommt man auf den Gedanken, dass die Wohnung absichtlich in einen Zustand versetzt wurde, der jeden noch so> interessierten Besucher mit der stillen, unausgesprochenen Frage> konfrontiert: „Was willst du hier?“ Das, was die Akademie in den> ehemaligen Räumlichkeiten des Archivs übriggelassen hat, erweckt den Eindruck – und es soll ganz sicher auch diesen Eindruck erwecken –, als wäre Lukács der Besitzer einer umfangreichen literarischen, philosophischen, historiographischen Bibliothek gewesen, weiter aber nichts. Klar, man wird ins ehemalige Arbeitszimmer geführt. Der Raum ist aber auch etwas wie ein Abstelllager geworden, hier steht ein viel zu> großes, arg ramponiertes Sofa wahrscheinlich nur deshalb herum, weil man es nur mit erheblichem Aufwand aus dem 5. Stock hätte abtransportieren können. Immerhin erinnert hier noch ein Schreibtisch daran, dass hier mal gearbeitet wurde, allerdings sind säuberlich alle Spuren getilgt worden, die daran erinnern könnten, dass das die längste Zeit eben durch das Archiv und nicht durch Lukács selbst geschah.
Die ganze Einrichtung macht eher den Eindruck, als sei man zu spät zu einer Haushaltsauflösung gekommen und könne nur noch die mickrigen> Reste, die wirklich keiner haben wollte, begutachten. Im zentralen Wohnzimmer müssen Lukács‘ Goethe-Werkausgaben (immerhin: in doppelter Ausführung vorhanden!) mit traurig herumliegenden Kabeln und den ramponierten Überbleibseln weggeschaffter Arbeitsplätze um die Aufmerksamkeit des Besuchers wetteifern. In einem kleinen Raum mit Balkon zur Donau hat sich ein Plakat an der Wand erhalten, das einige Karikaturen von Lukács versammelt. Es mag Zufall sein, dass genau dieses Stück die Räumung überlebt hat, aber es mutet doch perfide an: hier blicken nun Lukács grotesk verzerrte Köpfe auf eine Reihe von Wandschränken, die, nach Auskunft von Herrn Mesterházi, einst den handschriftlichen Nachlass von Lukács, eine ganz schön umfangreiche Manuskript- und Typoskriptsammlung also, beherbergten. Immerhin: im Wohnzimmer bekommt man (ob das immer so ist, weiß ich natürlich nicht, aber bei meinem Besuch jedenfalls war es so) eine kleine, erlesene Auswahl aus Lukács‘ Bücherbestand präsentiert. Natürlich die Erstausgabe der Theorie des Romans, natürlich die Erstausgabe von Geschichte und Klassenbewusstsein, sowie noch verschiedene Bücher mit persönlichen Grußworten an Lukács, darunter so namhafte Schinken wie Merleau-Pontys Philosophie der Wahrnehmung. „Für Georg Lukács“, handschriftlich signiert, das macht natürlich Eindruck. Oder in Lukács Faust-Ausgabe: Marginalien von ihm selbst! Zusammen mit dem Gesamteindruck der Wohnung bewirken diese wenigen> Raritäten aber eher eine gesteigerte Aufmerksamkeit des Besuchers für alles, was man hier nicht zu Gesicht bekommt.
Der einzige, echte Lichtblick beim Besuch ist der: die Möglichkeit, Herrn Mesterházi als kundigen Führer durch die ehemaligen> Räumlichkeiten begleiten zu dürfen und sich von ihm etwas über die Geschichte des Archivs belehren zu lassen. Für mich war der Besuch also dennoch ein Gewinn. Die Wohnung aber ist wirklich in einem nicht anders als jämmerlich zu bezeichnenden Zustand. Und die Kirsche auf der Sahnetorte: wenn man sie wieder verlässt, verschließt der Mitarbeiter der Akademie die Eingangstür mit gleich zwei Sicherheitsschlössern – man schaut ihm dabei zu und denkt sich unweigerlich: „Wozu? Es ist doch eh fast nichts mehr da.“
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