Aus: junge welt (07.042021)
Seite 11 / Feuilleton
Die Lederjacke nicht abgelegt
Zum Tod von Laszlo Sziklai, dem langjährigen Leiter des Lukács-Archivs
Von Rüdiger Dannemann
Seit über tausend Tagen ist trotz weltweiten Protests das Lukács-Archiv in Budapest geschlossen – ein Opfer der Kulturpolitik des ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orban. Vor wenigen Tagen verstarb Laszlo Sziklai, der ein Vierteljahrhundert lang Leiter des Archivs war, an den Folgen einer Coronainfektion im Alter von 79 Jahren (der genaue Todestag ist nicht bekannt, ungarische Internetseiten berichteten am 28.3., jW). Er war zunächst Dozent am Lehrstuhl für Musikästhetik an der ELTE (Eötvös-Lorand-Universität) in Budapest, den der Musikästhet Denes Zoltai, ein Lukács-Schüler und -Anhänger bis zu seinem Tode, zu dieser Zeit neu hatte etablieren können und den Lukács selbst nach 1945 innegehabt hatte. Seit 1977 war Sziklai Direktor des Lukács-Archivs – in dessen, wie Miklos Mesterhazi das später genannt hat, »goldenen Jahren«, als die Schätze seines Nachlasses geborgen wurden. Der Experte für Lukács’ Exilzeit entdeckte dessen Moskauer Schriften aus den 1930er Jahren wieder, die für den Kampf gegen die faschistische Barbarei verfassten Vorstudien zur »Zerstörung der Vernunft«, auch Lukács’ politisch-philosophische Testamentschrift »Demokratisierung heute und morgen«. Die darin formulierte Weigerung, Rosa Luxemburgs und Lenins Ideen als konträre Widersprüche zu verstehen, ist bis heute aktuell. Mit seiner Studie »Georg Lukács und seine Zeit. 1930–1945« hat Sziklai ein Standardwerk geschrieben, das uns dabei hilft, Lukács’ große Studie über die nach Hegel einsetzende Zerstörung der Vernunft historisch richtig einzuschätzen und ihren in unseren Tagen wiederzuentdeckenden Wert zu würdigen. (…)
Die Internationale Georg-Lukács-Gesellschaft und die Community der Lukács-Forscher verliert in Sziklai einen Wissenschaftler, der zuvor unerkundete Gebiete zugänglich und das Archiv zu einem internationalen Forschungszentrum gemacht hat. Laut Agardi schuf er eine professionelle und menschliche Gemeinschaft, die als »kleiner Kreis der Freiheit« fungierte und auch nach der Schließung des Lukács-Archivs praktisch weiterlebt. Wir teilen die in diesen Worten zum Ausdruck kommende Wertschätzung und wünschen, die dort formulierte Hoffnung möge Wirklichkeit werden. Sich dafür einzusetzen, ist die beste Art, Laszlo Sziklai zu gedenken.
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